Nachgelesen
Dr. Walter Flemmer
Vortrag Blutenburg anlässlich unseres Blutenburger Fischesens am 22. 2.2015
Der Tod hat viele Gesichter
Nachgetragene und zum Nachdenken anregende Aschermittwochs-Gedanken
Der Tod, Tote, Sterbende, sie haben Konjunktur. Täglich werden neue Selbstmordanschläge gemeldet, bei denen wieder Dutzende Menschen umgebracht wurden, die Diskussion zum Thema Sterbehilfe nimmt kein Ende, aus Bremen hat uns die Nachricht erreicht, dass es nun erlaubt ist, die Asche Verstorbener im eigenen Garten zu verstreuen. Der Besuch an einem Grab ist nicht mehr erwünscht, die Asche soll verweht sein.
In Afrika, im Vorderen Orient, wird die Zahl der Toten nur noch nach Tausenden angegeben. Menschen sterben in den brutalen Auseinandersetzungen verschiedener Stämme, in den Kleinkriegen zwischen Rebellen und Regierungstruppen, sie werden zu Hunderttausenden von Seuchen und Krankheiten weggerafft. Das Sterben der einzelnen Menschen geht in den Bergen, ja Gebirgen der Toten unter, die sich von Jahr zu Jahr höher türmen. Und dann inszenieren die Islamisten des IS das Abschlachten von Menschen als Videobotschaften.
Wo wir dem Tod wirklich begegnen, wehren wir uns gegen ihn. Wir bedecken sein Gesicht. Wir lassen unser Leben versichern, als seien wir dadurch vor dem Sterben-müssen bewahrt. Weil wir uns, eingestanden oder nicht, vor dem Tod fürchten, maskieren wir ihn. Doch das Leben kommt ohne den Tod nicht aus. Jeder Mensch gibt dem Tod, dem Sterben seine Antwort, die letzte, die er zu geben hat.
Die Religionen und Kulturen befragen den Tod gemäß ihrer Entwicklung, ihrem Vermögen. Wie die Jahrhunderte unterschiedliche Antworten geben, so auch Medizin, Theologie, Dichtung und Philosophie. Was ist er Tod? Warum müssen wir sterben? Kaum eine Antwort gleicht der anderen.
Die Sprache der Medizin und Biologie ist die der Wissenschaft: klar, prägnant, scheinbar jede Diskussion über den Tod beendend. Medizinisch gesprochen ist der Eintritt des Todes beim Menschen dadurch gekennzeichnet, dass der Organismus seine gewohnten Funktionen einstellt und nicht wieder aufnimmt. Er verliert zunächst seine Selbstbeweglichkeit. Sein innerer motorischer Antrieb scheint plötzlich zu versagen, alle aktiven Bewegungen des Körpers bleiben aus. Auch die im tiefsten Schlafzustand unerlässlichen Bewegungen, die den Atmungsvorgang und das Schlagen des Herzens ermöglichen, setzen aus und kommen nicht wieder in Gang. Der im Leben warme Körper erkaltet bis fast zur Umgebungstemperatur des Raumes, in dem er sich befindet. Das Blut gerinnt und die Muskeln erstarren, infolge von Blutstauungen treten Verfärbungen der Haut, die sogenannten Leichenflecken, auf. Dann schließlich beginnen Verwesungs- und Zerfallserscheinungen. Der Körper, der in gesundem Zustand für Mikroorganismen kaum angreifbar war, wird nun von vielerlei Mikroorganismen angegriffen und abgebaut, aber auch ohne ihr Zutun beginnt er von selbst seine innere Struktur zu verlieren, sich zu zersetzen und irreversibel zu verändern. Ganz ähnlich tritt uns das Phänomen des Todes bei allen Tieren entgegen.
Wo ist die Antwort auf den Tod? Wo ist die Gegenantwort?
Hat die Theologie den Tod gedeutet, zu Ende gedacht? Weiß sie nach Jahrhunderten eine Antwort? Die Antwort? Sie hat über den Tod nachgedacht, ihn erklärt. Schon die Patristik unterschied zwischen Tod und Tod. Ambrosius nannte im vierten Jahrhundert drei Arten: den Sündentod als Tod der befleckten Seele, den mystischen Tod als Tod der ekstatischen Seele, schließlich den physischen Tod. Der Tod wird im Denken der Theologie spiritualisiert, der physische Tod rückt an die letzte Stelle. Durch Jahrhunderte ist so der Tod gedeutet worden, bis in unsere Zeit. Heute differenzierter, scheinbar wissender als zur Zeit der Väter, als in den ersten Tagen des Christentums. Der Tod hat seinen Platz im System der Theologie. Er sei der sichtbarste Ausdruck der Endlichkeit des Menschen, sagt sie und: in der ausdrücklichen und bewussten Vergegenwärtigung des Todes zeige sich, dass das Sterben über das Leben hinausweise. Nicht Ende des Seins oder Übergang aus einer Daseinsform in eine andere sei der Tod, sondern Anfang der Ewigkeit.
Der Tod ist älter als die Theologie. In den Bestattungsriten der primitiven Völker ist heute noch die mythische Größe des Todes gegenwärtig. In Indien werden auch in der Gegenwart die Leiber der Verstorbenen einer bestimmten Kaste in den Totentürmen den Geiern zum Fraß gegeben. Riesige Burgen des Todes sind die Pyramiden, von den Lebenden über den Leichnam des Herrschers getürmt, der einbalsamiert wird, damit seine Gestalt auch jenseits des Todes unverändert sei. Durch die Kraft der Seele gehe der ägyptische König im Sterben in den Kosmos ein, heißt es im Ägyptischen Totenbuch. Die altägyptische Religion hat den Tod in den Kult wie kaum eine andere einbezogen. Eigene Totengötter, Totentempel und Totenopfer: überall und immer war den Menschen der Tode gegenwärtig.
Der griechische Philosoph Sokrates stirbt. Er nimmt ruhig den Schierlingsbecher, den ihm die Richter reichen. Vor dem Erscheinen des Christentums deutet er den Tod für das Abendland am tiefsten, durch sein Wort und das Beispiel seines Sterbens, wie es Platon berichtet: „Wird nicht gerade dies als Tod bezeichnet: Lösung und Trennung der Seele vom Leib? Und streben nicht die wahrhaft Philosophierenden am meisten danach, die Seele vom Leib zu lösen? Sokrates nahm ganz heiter, ohne zu zittern oder Farbe oder Gesichtszüge zu verändern, den Becher. Er setzte an und trank das Gift gelassen aus. Bis dahin waren die meisten von uns imstande gewesen, sich zu beherrschen und nicht zu weinen; doch als wir sahen, wie er trank, da konnten wir nicht mehr. Sokrates aber sagte: Was fällt euch ein, ihr Törichten. Ich habe doch gerade deswegen die Frauen fortgeschickt, damit sie keine solchen Torheiten anstellen möchten. Denn ich habe gehört, es müsse stille sein, wenn einer stirbt. Darum seid still und gefasst.“
„Was du zuwege gebracht hast, wird offenbar, wenn es ans Sterben geht“, heißt es bei Seneca. Tapfer und unbewegt den Tod zu erleiden, ist höchste Erfüllung der stoischen Philosophie. Augustinus sieht im Leben ein Rennen zum Sterben, bei dem niemand auch nur einen Augenblick halten oder den Schritt verzögern kann.
Christus gibt durch sein Sterben dem Tod einen anderen Sinn. Das Evangelium verkündet den Tod als ein „Sterben im Herren“, in Christus, der gesagt hat: „Jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit den Tod nicht schauen. Das geschichtliche Ereignis der Kreuzigung erhält eine heilsgeschichtliche Bedeutung für die folgenden Jahrhunderte. In den Verfolgungen der ersten Jahrhunderte besiegeln die Märtyrer mit dem Tod ihr Zeugnis für Christus.
Ignatius von Antiochien schreibt an die Gemeinde in Rom: „Meine Geburt naht. Vergebt mir, Brüder! Hindert mich nicht daran, zu leben, und wünscht nicht, dass ich sterbe! Verführt den nicht, der Gott gehören will, gebt mich nicht der Welt preis. Lasst mich das reine Licht empfangen! Wenn ich dort angelangt bin, werde ich Mensch sein. Als ein wahrhaft Lebendiger schreibe ich euch voll Sehnsucht nach dem Tode. Mein irdisches Verlangen ist gekreuzigt worden, und in mir ist kein Feuer mehr, um die körperliche Welt zu lieben, sondern nur noch ein lebendiges Wasser, das in meinem Inneren raunt und sagt: Kommt zum Vater.“
Die Mosaike in den frühen Kirchen der Christenheit zeigen den Gläubigen Christus als den Herrscher über den Tod, als den Sieger Franziskus, ärmster Diener Jesu Christi, wie er sich selbst nennt, schreibt an eine Frau: „Wisse, dass Christus in seiner Gnade mir dem baldigen Ablauf meines Lebens geoffenbart hat. Wenn du mich noch am Leben treffen willst, so beeile dich. Bringe auch Tuch mit oder ein härenes Kleid, um meinen Leib einzuwickeln und Wachs für mein Begräbnis.“ Franziskus, der fröhliche Heilige, nimmt den Tod als einen Bruder an. Er hat sich zu einem durchscheinenden Gefäß für die Gnade gemacht, deswegen kann er wenige Tage vor seinem Tode unbeschwert über alltägliche Dinge sprechen. Franziskus wird zuletzt gewürdigt, die Wundmale Christi zu tragen, nachdem er in demütiger Bereitschaft den Spuren des Herrn gefolgt war.
Das Mittelalter erfährt den Tod in Krieg, Seuchen und Hungersnot. Frau Welt ist vorne schön anzusehen, sie verführt Menschen. Ihr Rücken aber wird von Schlangen und Ungeziefer zerfressen, sie ist entstellt durch Krankheiten und Laster. Das Leben in der Welt ist Trug und Eitelkeit. Der Tod ist mächtiger, seine Hand packt unvermittelt zu. Groß ist die Furcht vor der Hölle, die Angst vor dem Teufel. Nur das Sterben Christi gibt Hoffnung, dass der grausame Tod nicht die Hölle aufstößt. Das Sterben Christi und das der Märtyrer wird Vorbild. Der Tod ist grausam. Hart und schnell ergreift der Knochenmann die Gestalten, die sich im Totentanz drehen: Bettler, Bürger, König und Bischof. Vor keinem macht er Halt. Am Ende des Mittelalters wagt der Mensch in seiner Klage um den Gestorbenen die Anklage gegen den Tod:
„Grimmiger Vertilger aller Lande, schädlicher Verfolger aller Welt, schrecklicher Mörder aller Menschen, Ihr, Tod, seid verflucht. Himmel, Erde, Sonne, Mond, Gestirne, Meer, Woge, Berg, Gefilde, Tal, Aue, der Hölle Abgrund und alles, was Leben und Wesen hat, sei Euch unhold, ungnädig und fluche Euch ewiglich. Grauen und Furcht sollen nicht von Euch weichen; von mir und jedermann sei bitterlich Weh über Euch geschrien mit gewundenen Händen.“
Das Barock redet nicht vom Tod, sondern verspürt seine Macht täglich. Der Dreißigjährige Krieg, die endlosen Glaubenskämpfe, stehen einer zu höchst gesteigerten Lust am Leben gegenüber. Noch durch das dialektische Spiel mit dem Tod spricht der Ernst eines Herzens, das aus der Not der Zeit allein im Glauben seine Rettung weiß.
Der Prunk des Barock ist ein Fest über dem Abgrund. Das überschäumende Feuer aus Farben, der verschwenderische Reichtum an Formen, ist immer auch der Versuch, eine furchtbare Angst zu bannen. Die Zeit redet nicht nur vom Tod, sie verspürte ihn täglich Die Glaubensstreitigkeiten, der Dreißigjährige Krieg, lassen den Menschen den Tod in seinen grausamsten Formen erleben. Aller Glanz, der Schmuck der Gewänder, Aufbauten, Ornamente, sind zuletzt nur Aufputz des Todes, des Toten. Die Gebeine des Heiligen werden mit Brokat bekleidet. Aber unter der Krone, hinter den goldverzierten Scheiben des Schreins blickt der Totenkopf. Vanitas, vanitatum, vanitas. Die Eitelkeit der Eitelkeiten ist das Spiel der Welt. Im barocken Welttheater ist jedem Spieler von Gott, dem Spielmeister, eine Rolle zugeteilt, die er zu spielen hat, bis der Tod ihn abruft.
Am Ende des Barock fleht der Mensch in Bachs Matthäuspassion vor dem Kreuz um eine christliche Sterbestunde: „Wenn ich einmal soll scheiden“.
Dem Ernst des Barock folgt die verspielte, heitere Welt des Rokoko. Sogar das Leiden des Gekreuzigten wird zur beinahe spielerischen Attitüde. Der Tod wird zur Allegorie. Der Knabe, der eine umgekehrte Fackel zu Boden hält, soll ihn symbolisieren. So verliert der Tod seinen Ernst. Er ist nicht mehr schmerzhafter Schnitt zwischen Hier und Drüben.
Die Aufklärung setzt an die Stelle der barocken Angst vor dem Tod und seiner gläubigen Annahme ein vernünftiges Verständnis. In einer philosophisch vernünftigen Definition wird der Tod zerdacht. Bald wird das Sterben humanisiert, entkörperlicht im Glauben an ein Fortbestehen des Geistes, wie es der alte Goethe sieht: „Wenn einer fünfundsiebzig Jahre alt ist, kann es nicht fehlen, dass er mitunter an den Tod denke. Mich lässt dieser Gedanke in völliger Ruhe, denn ich habe die feste Überzeugung, dass unser Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur; es ist ein fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es ist der Sonne ähnlich, die bloß unseren irdischen Augen unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet.“
Im Zauberreich der Romantik erhält auch der Tod eine neue, tiefere Färbung. Novalis, der Dichter der „blauen Blume“, spricht von den Entzückungen des Todes, die durch keinen Genuss des Lebens aufgewogen werden.
Kleist schreibt in einem Abschiedsbrief, ehe er sich am Wannsee erschießt: „Ich kann Gott mein Leben jetzt danken, weil er es mir durch den herrlichsten und wollüstigsten aller Tode vergütigt.“
Schopenhauer denkt die Gedanken des Uphanishad und die buddhistische Philosophie für den Westen weiter. Schon hat sich sein Wort von der abendländisch biblischen Sicht des Todes völlig entfernt. „Der Tod ist die große Zurechtweisung, welche der Wille zum Leben und näher der diesem wesentliche Egoismus., durch den Lauf der Natur erhält; und er kann aufgefasst werden als eine Strafe für unser Dasein. Er ist die von außen eindringende, gewaltsame Zerstörung des Grundirrtums unseres Wesens: die große Enttäuschung. Wir sind im Grunde etwas, das nicht sein sollte: darum hören wir auf zu sein. Ruhig und sanft ist, in der Regel, der Tod jedes guten Menschen; aber willig zu sterben, gern sterben, freudig sterben, das ist das Vorrecht des Resignierten, dessen der den Willen zum Leben aufgibt und verneint.“
„Was nur immer Grund und Prinzip deines Lebens ist, dasselbe ist auch Grundprinzip deines Todes“, heißt es noch im 19. Jahrhundert bei Feuerbach. Der Tod wird im Leben vorgestaltet, er ist eine zu erfüllende Aufgabe, ganz gleich zu welchem Ziel.
Während die Malerei des späten 19. Jahrhunderts Krieg und Tod als Ornament sehen, versucht Wagner im Tristan den Tod durch die ekstatische Liebe zu verklären.
Um die Jahrhundertwende wird der Tod zur Mode in Philosophie und Dichtung. Die großen Franzosen haben einen neuen Mythos vom Tod geschaffen. Eine selten schwülstige Art der Verzückung und Entrückung in kontrollierte Zustände hatte um sich gegriffen.
Schließlich wird bei George, Beer-Hoffmann, bei Hofmannsthal und Rilke immer wieder vom Tod die Rede sein. Man liebt den Tod, man verliebt sich in ihn. Rilke prägt das flache Wort vom „eigenen Tod“, vom „großen Tod“. George feiert an der Schwelle des 20. Jahrhunderts in seinen Gedichten den Tod und stilisiert ihn bis ins eigene Sterben. In Hofmannsthals Jedermann tritt der Tod noch einmal wie im barocken Welttheater auf, als der von Gott berufene Bote einer jenseitigen Welt. In Munchs Bildern ist der Tod mit einmal wieder beklemmend nah. In der Luft des Krankenzimmers ist er zu spüren. Hinter allem aber steht die Verzweiflung. Im Schrei macht sich die Angst vor dem Tode Luft. Die Liebe ist Flucht vor ihm, aber auch sie vermag die Angst nicht zu bannen.
Mit Begeisterung ziehen die Soldaten des Ersten Weltkriegs in den Tod. Bald aber zerschlägt die Realität des Massensterbens die Sehnsüchte nach dem Tod für das Vaterland, die unwahren und unklaren Spiele mit ihm.
Dann entdecken Philosophie und Dichtung den Ennui, den Überdruss, Ekel und die Verzweiflung als die Grundbefindlichkeiten unseres Daseins als Bilder des Todes. Das Leben endet im Nichts, wie uns der atheistische Existenzialismus glauben machen möchte. Noch mit den „schmutzigen Händen“ ergreifen wir immer nur nichts. Es bleibt die Kapitulation vor dem Tod, weil nach ihm nichts mehr kommt oder nur der hoffnungslose Versuch, gegen ihn anzukämpfen.
Am Montag, dem 4. Januar 1960, raste ein Auto auf der Straße Sens-Paris dahin. Ein Reifen platzte. Der Wagen schlitterte, prallte gegen eine Platane, gegen eine zweite, zerriss in zwei Teile und kam schließlich zum Stehen. In den Trümmern lag zwischen den Sitzen ein Toter: Albert Camus, Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1957. Um schneller nach Paris zu kommen, hatte er statt der Eisenbahn, für die er bereits eine Fahrkarte gelöst hatte, den Wagen seines Verlegers benützt. Ein sinnloser, ein grausamer Tod. Sinnlos auch darum, weil er Ende ist, Ende schlechthin. Der Roman Die Pest hatte die Haltung des Dichters dem Tod gegenüber schon 1947 gezeichnet: „Das Heil der Menschen ist ein zu großes Wort für mich. Ich gehe nicht so weit. Mich geht ihre Gesundheit an, zu allererst ihre Gesundheit. Ich weiß weder, was meiner erwartet, noch, was nach alldem kommen wird. Im Augenblick gibt es Kranke, die geheilt werden müssen. Da die Weltordnung durch den Tod bestimmt ist, ist es vielleicht besser für Gott, wenn man nicht an ihn glaubt und dafür mit aller Kraft gegen den Tod ankämpft, ohne die Augen zum Himmel zu erheben, wo er schweigt.“
Die Tapferkeit solcher Haltung nötigt zur Bewunderung. Und Camus hat seinen einsamen, glaubensfernen Humanismus durch ein tapferes Leben bezeugt. Trotzdem muss er in dem heroischen Kampf gegen den Tod versagen, weil Gott für ihn schweigt; und alle Hilfe, die er den Kranken bringt, kann sie nicht vor dem Tod bewahren.
Der am 1. Januar 2008 verstorbene Schriftsteller Johannes Mario Simmel hatte nichts mit dem Jenseits im Sinn. Er lebte in der Welt, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, was möglicherweise nach dem Tod kommt. Er sagte: „Ich will nicht in den Himmel, in die Hölle, ins Fegefeuer, ich will einfach nur weg sein. Ein Leben reicht mir.“
Dichtung und Philosophie verstummen vor der unmittelbaren Erfahrung des Todes. Anders sieht uns der Tod aus dem Gesicht des Sterbenden an. Sein Aug in Aug mit dem Tod, sein Sterben-müssen und Sterben-können gibt die eindringlichste Antwort. Ignatius von Antiochien, auf dem Weg zum Martyrium, an die Römer: „Es ist gut für mich zu sterben, um mich mit Jesus Christus zu reinigen, besser, als über die äußersten Enden der Erde zu herrschen. Hinzu wie ich komme der für uns gestorben ist, nach ihm sehen nicht mich, der wir uns auferstanden ist. Meine Geburt nahte. Vergebt mehr, Brüder! Hindert mich nicht daran zu leben, und wünscht nicht, dass ich sterbe! Verführt den nicht, der Gott gehören will, gibt ihn nicht der Welt preist! Lasst mich das reine Licht empfangen. Wenn ich dort angelangt bin, werde ich Mensch sein. Als ein wahrhaft Lebendiger schreibe ich euch voll Sehnsucht nach dem Tode. Mein irdisches Verlangen ist gekreuzigt worden, und in mir ist kein Feuer mehr, um die körperliche Welt zu leben, sondern nur ein lebendiges Wasser, das in meinem Inneren raunt und sagt: Komm Vater.“
Der Tod hat viele Gesichter. Auch dies: das Gesicht der Sterbenden, die mit einem Fluch auf den Lippen sterben. Die nicht daran glauben wollen, dass der Tod eine Geburt sein kann. Und dies: das tapfere Sterben für eine falsche Idee, aus falscher Einsicht. Aus dem Bericht eines Soldaten im Zweiten Weltkrieg „Im selben Augenblick krachte ein Schuss, und mit einem Stöhnen sank Hans zusammen. Er, der mich schützen wollte, war gefallen. Ich kniete neben dem Kameraden nieder. Mit brechenden Augen blickte er mich an, und mühsam formte sein Mund noch die Worte: Es ist nicht schlimm, Peter. Nur meine armen Eltern - schreibe Ihnen -, dass ich für unseren Führer gefallen bin.“.
Alexander Schmorell, Mitglied der Widerstandsgruppe der Münchner Studenten, wurde 1944 hingerichtet. Er schrieb: „Nun hat es doch nicht anders sein sollen, und nach dem Willen Gottes soll ich heute mein irdisches Leben abschließen, um in ein anderes einzugehen, das niemals enden wird, und indem wir uns alle wieder treffen werden. Ich werde euch nicht vergessen, werde bei Gott um Ruhe und Trost für euch bitten.“
Das 20. und das 21. Jahrhundert geben dem Tod eine andere Antwort als frühere Zeiten. Wir geben dem Tod unser Gesicht. Wir haben neue Tode erfunden. Den Massentod des modernen Krieges, den Massentod der Konzentrationslager, den Managertod, den Unfalltod. Der Tod unserer Zeit ist ohne Namen, blind, würdelos oft. Die Atombombe schließt den Opfertod eines Einzelnen aus, sie ist technisches Mittel zur rationellen Liquidation Tausender. Der Tötende weiß nicht, dass er tötet, wen er tötet., sein Flugzeug, seine Drohne wird geflogen, die Getöteten wussten nicht, dass sie sterben würden. Wer übernimmt die Schuld an diesem Tod? Wer heiligt nach ihm noch das Leben? Die Entscheidung scheint dem Menschen aus der Hand genommen. Der Tod funktioniert wie alles um ihn. Die Maßstäbe verwirren sich. Es gibt christliche Atombomben, von Christen gebaut, vielleicht zum Tod von Christen. Atombomben, die dem Frieden dienen sollen und solche des Gegners. Die unseren sind gut, die anderen teuflisch. Wir rüsten zum Frieden mit den Waffen des Todes.
Der Tod ist ebenso wenig wie das Leben der eigene Besitz des Menschen. Der Christ stirbt in Christus und für Christus. Trotzdem kann das Sterben des Christen fürchterlich sein. Der Glaube hebt die Angst nicht einfach auf. Der Sturz in den Tod ist aber zugleich ein Fallen in die Hände des lebendigen Gottes, der uns die Auferstehung des Fleisches verheißen hat. Das Geheimnis des Todes ist untrennbar mit der Auferstehung verbunden.
Das Gesicht des Todes ist für Christen ein anderes geworden, seitdem Christus durch sein Sterben die Welt erlöst hat. „In Christus leuchtet die Hoffnung seliger Auferstehung. Deinen Gläubigen, Herr, kann ja das Leben nicht geraubt werden, es wird nur neu gestaltet. Wenn das Haus ihrer irdischen Pilgerschaft zerfällt, steht ihnen eine ewige Heimat im Himmel bereit.“ In diesen Gebeten die Kirche, die der Priester beim Sterbenden oder am Grabe spricht, findet sich kein Wort der Trauer. Die Kirche bringt Gott die Seele des Gestorbenen dar. „Der Friede sei mit dir“, redet sie den Toten an. Ebenso wenig wie die Kirche trauert, spricht sie direktes Wort des Trostes. Sie blickt nicht zurück, sondern nach vorne ins Licht des Vaters, das sich für den im Glauben Gestorbenen geöffnet hat. Trost aber wird im Gebet.
„Christus empfange dich, der dich gerufen hat.“ Jenseits von Philosophie Theologie und Dichtung können die Kirche dieses Gebet, das sie am Grab des Gestorbenen spricht, wahr machen in einer Welt, die sich im Tod vom Nichts empfangen glaubt, die ihr rien, rien, rien zur Lösung der Verzweiflung anbietet und als tapfere Haltung in der Verlorenheit preist. „Die Welt kennt uns nicht“, sagt Johannes, „und weil sie uns nicht kennt, weiß sie auch nicht, was unser Tod ist.“ Die freudige Sehnsucht, mit der Ignatius von Antiochien das Sterben als eine Geburt erwartete, muss der Welt ein Ärgernis sein und unverständlich bleiben, wie die Todesbereitschaft der Märtyrer immer ein Geheimnis geblieben ist. Der Tod des Christen ist hineingenommen in das Mysterium des Glaubens. Seit Christus in die Welt gekommen ist, gibt es für Christen die Gottverlassenheit der Sterbenden nicht mehr, nicht mehr die Angst vor einem Sterben, hinter dem die Leere heraufkommt. Der Brief des Paulus an die Römer entmächtigt sowohl das Wort vom eigenen als auch vom anonymen Tod.
„Keiner von uns lebt sich selbst und keiner stirbt sich selbst. Wenn wir leben, leben wir dem Herrn, wenn wir sterben, sterben wir dem Herrn. Denn dafür ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, damit er herrsche über die Lebenden und die Toten.“
Klaus Mai
Der KZ-Außenlagerkomplex Dachau-Allach in Ludwigsfeld
Als ich vor zwei Jahren begonnen hatte, mich im Rahmen der Stadtteilforschung mit dem KZ-Außenlager Dachau-Allach zu beschäftigen, war ich erstaunt, dass fast 70 Jahre nach der Befreiung über das einzige Münchner Konzentrationslager noch keine wissenschaftliche Gesamtdarstellung erhältlich war. Das zu diesem Außenlagerkomplex gehörige OT-Lager Allach-Karlsfeld ist bisher überhaupt nicht behandelt worden.
So begann ich vorhandene Quellen zusammenzutragen, die Entstehung und Entwicklung dieses Außenlagerkomplexes zu dokumentieren. Um ein Ergebnis gleich vorwegzunehmen: Dieses Münchner KZ ist von der Stadt München und der Wissenschaft bisher vergessen worden!
Für die hier vorliegende Darstellung der Entstehung und Entwicklung des Komplexes des KZ-Außenlagers Dachau-Allach habe ich versucht, möglichst viele Primärquellen zu erschließen. In erster Linie waren dies Quellen des ehemaligen Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes (ITS) - heute Bundesarchiv, die „Totenbücher“ aus dem Archiv der Gedenkstätte des KZ Dachau sowie Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaften sowie internationale Quellen (US-Holocaust-Museum, Yad Vashem, u.a.). Einige Aussagen waren als „Lebenserinnerungen“ in Buchform verfügbar.
In der nun vorliegenden Dokumentation sind über 100 Aussagen von Häftlingen, ihren SS-Bewachern und dem SS-Führungskader enthalten.
Der KZ-Außenlagerkomplex Dachau-Allach war das drittgrößte Nebenlager des KZ Dachau und das größte KZ Münchens. Allein aus dem „SS-Arbeitslager“ waren im Zweischichtbetrieb ab dem Winter 1943/44 etwa 5.500 KZ-Häftlinge für BMW im Zweischichtbetrieb tätig. Ab August 1944 wurden zusätzlich über 1.100 jüdische Häftlinge des OT-Lagers Allach-Karlsfeld vorrangig im Baukommando „BMW-Bunkerhalle“ beschäftigt. Die Mordmaschinerie des NS-Regimes mit dem Ziel der Vernichtung durch Arbeit - insbesondere der jüdischen Häftlinge - funktionierte perfekt. BMW-Allach bekam KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter gegen Bezahlung an die SS.
In den Akten der Staatsanwaltschaften war mehrfach von einer „durchschnittlichen Belegung“ der Lager zu lesen. Methodisch ist der Wert solcher Feststellungen gleich Null, da daraus keine Erkenntnisse über die Behandlung der Häftlinge abzuleiten sind. Für den Ablauf des organisierten Tötens ergeben sich aus solchen Ergebnissen keine Anhaltspunkte. Man gewinnt beim Lesen mancher Akten ohnehin den Eindruck, dass die Ermittlungen der Bundesdeutschen Justiz im Hinblick auf die 1979 drohende Verjährung von Mord schleppend geführt wurden.
Dieser Eindruck wird durch falsche Namensgebungen der Behörden verstärkt. Die Staatsanwaltschaft München spricht in ihren Ermittlungen zum OT-Lager einmal von einem „KZ-Außenlager Dachau-Allach“, wenige Seiten später gar von einem „KZ-Außenlager Allach/Moosach“ und „SS-Arbeitslager Allach“. Im Verlauf meiner Recherchen sind mir 15 verschiedene Namen für einen „Tatort“ begegnet!
Ähnlich schlampig ging die Behörde bei der Benennung des Arbeitskommandos „Bau und Fertigung“ vor. Trotz schriftlichem Hinweis des ITS aus Bad Arolsen auf diese Unrichtigkeit blieben die Ermittlungsbehörden bei ihrer Praxis, trugen m.E. bewusst zur „babylonischen Sprachverwirrung“ und damit zur Verharmlosung der Geschehnisse im OT-Lager bei. Die Beispiele zeigen auch, dass sich sowohl die Ermittlungsbehörden als auch die Wissenschaft nicht wirklich ernsthaft um Aufklärung bemühten. Wie wäre ein „Lager Allach/ Moosach“ sonst erklärbar?
Welches Interesse könnte eine staatliche Behörde wie die Staatsanwaltschaft haben, nicht beweisbare Zahlen als Fakten vorzugeben? Wollte man auf diese Weise die Unwichtigkeit dieses Lagers dokumentieren? Die bis dahin gültige „amtliche“ Feststellung von ca. 25 Hängungen im Lager schien diese Auffassung zu unterstreichen.
Ein Grund könnte gewesen sein, die Größe des Lagers bewusst zu banalisieren und damit die dahinterstehende Mordmaschinerie zu verharmlosen. Damit wurde der Eindruck erweckt, dass dieses OT-Lager „nicht so groß gewesen sein könne“ und suggeriert, dass deshalb "nur wenige" Verbrechen an den Häftlingen begangen worden sein können! Mit der Firmengeschichte von BMW ist das OT-Lager Allach-Karlsfeld ohnehin bisher nie in Verbindung gebracht, die dahinterliegende Systematik des Tötens „Vernichtung durch Arbeit“ bei BMW nie diskutiert worden. Amtlich sind hier keine Toten festgestellt, Verfahren zwar gegen Täter eingeleitet, zunächst aber wegen Verjährung eingestellt worden. Kann es eine größere „amtliche Unterstützung“ der Verharmlosung von NS-Verbrechen geben?
War eine umfassende juristische Aufklärung der NS-Verbrechen überhaupt politisch gewollt?
Diese 1.100 Ermordeten während der Jahre 1943 bis 1945 in dem hier untersuchten KZ-Außenlagerkomplex (KZ-Außenlager Dachau-Allach, OT-Lager Allach-Karlsfeld) sind Opfer des Holocaust, von denen man hätte in München wissen können.
OT-Lager ("Judenlager") und BMW-Bunkerbau
Auch die nach Kriegsende an den Folgen der Haft gestorbenen Häftlinge müssen hier dazugezählt werden.
Vielleicht wollte man den Namen BMW in den siebziger Jahren nicht „unnötigen“ Belastungen aussetzen, einen großen Gewerbesteuerzahler Münchens nicht verprellen. Bisher wurde das OT-Lager Allach-Karlsfeld nicht mit dem Flugmotorenwerk von BMW in Verbindung gebracht und dies, obwohl alle Häftlinge ausschließlich für BMW arbeiteten. Die „Freude am Fahren“ wäre bei genauerer Kenntnis der Vergangenheit sicher vielen Kunden vergangen: Im „OT-Lager Allach-Karlsfeld“, Teil des KZ-Außenlagers Dachau-Allach, wurde "Vernichtung durch Arbeit“ mit aktiver Hilfe, Planung und Beteiligung von BMW praktiziert!
Das OT-Lager grenzte direkt an das KZ-Außenlager Dachau-Allach und wurde vom gleichen Kommandanten (SS-Hauptsturmführer Josef Jarolin) befehligt. Eine getrennte Betrachtung erschien sowohl unter dem Gesichtspunkt der Lagerverwaltung als auch der Arbeitsorganisation als falsch. Die Lagerorganisation beider Lager entsprach zudem dem Vorbild des KZ-Dachau. Die 22 Kapos waren zunächst deutsche politische Häftlinge und wurden erst Anfang 1945 gegen jüdische Kapos ausgetauscht.
Die disziplinarische Zuständigkeit - sprich Oberaufsicht - des Lagers lag von Anfang an bei der SS, den Arbeitseinsatz bestimmte jedoch ausschließlich BMW. Kapos, OT-Leute und Werkmeister waren Kalfaktoren, erstere vollzogen u.a. die Prügelstrafe unter Aufsicht der SS, letztlich aber im Auftrag von BMW. Die Bewachung des Lagers erfolgte durch OT-Leute, SS und „ältere Wehrmachtssoldaten“. Ihnen oblag die tägliche Begleitung der Häftlinge zur Arbeit und die dortige Überwachung mit ihren Hunden.
Der Arbeitsbereich der Häftlinge innerhalb des BMW-Werkes war abgesperrt und durfte nicht übertreten werden, weder von den Häftlingen noch von den Zivilisten. Abrechnungen der SS weisen darauf hin, dass OT-Lagerführer Meyer über 1.100 OT-Häftlinge im Bunkerbau bei BMW befehligte. Die Abrechnung gegenüber BMW besorgte ebenfalls die SS. Auch wurden KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter aus dem KZ-Außenlager Dachau-Allach und dem OT-Lager Allach-Karlsfeld über Subunternehmen wie Wayss & Freitag, Dyckerhoff & Widmann, Sager & Woerner, Leonhard Moll und der Deutschen Reichsbahn direkt über BMW abgerechnet.
Bereits der Lageraufbau erfolgte durch etwa 500 jüdische männliche Häftlinge von Mitte Juni bis Ende Juli 1944. Sie kamen direkt von Auschwitz-Birkenau „über die Rampe“ via Lager Rothschwaige in das OT-Lager Allach-Karlsfeld. Hier ist der direkte Bezug zur Judenvernichtung in Allach-Karlsfeld gegeben. Der Beginn des OT-Lagerbetriebs erfolgte Anfang August 1944. Der erste Tote - ein jüdischer Häftling - aus dem „OT-Lager Allach-Karlsfeld“ wurde am 2. August 1944 im Krematorium des KZ-Dachau verbrannt. In der Folgezeit wurden dort bis Kriegsende dort 191 namentlich bekannte Häftlinge aus Karlsfeld eingeäschert.
Ab Inbetriebnahme von August 1944 bis Ende Februar 1945 war das Lager durchgehend mit über 1.200 männlichen Häftlingen belegt. Im November 1944 wurden zusätzlich 1.026 ungarische Jüdinnen in das Lager eingewiesen. Ab Ende Februar 1945 bis Kriegsende wurde ein Teil des Lagers für weibliche Häftlinge abgezäunt. Für den Monat April bis zum „Todesmarsch“ am 26. April 1945 ergibt sich zeitweise eine tatsächliche Lagerbelegung von über 2.200 Jüdinnen und Juden.
Ab Mitte April 1945 wurden die Zu- und Abgänge nur mehr unzureichend erfasst, so dass ein korrektes
Belegungsbild nicht mehr möglich ist. Für die Zeit davor ergibt sich jedoch ein ungewöhnlich klares Bild. Die für diesen Zeitraum ermittelten Zahlen sind beweisbare Zahlen.
Was die Zahl der Toten angeht, steht der Komplex KZ-Außenlager Dachau-Allach mit dem OT-Lager Allach-Karlsfeld auf Rang 4 der „Nebenlager“ des KZ Dachau. Zwei Selektionen im OT-Lager vom August 1944 mit etwa 200 und im November mit etwa 150 Häftlingen sind bisher unbeachtet geblieben. Eine weitere Selektion im Februar 1945 mit 150 Häftlingen kommt hinzu. Hunderte von Toten lagerten Ende April 1945 im Lager auf Haufen. Sie wurden dort verscharrt oder auf dem Feldmochinger Friedhof begraben. Ihre Umbettung erfolgte 1950 auf den KZ-Friedhof Ludwigsfeld, 1955 nach Dachau-Leitenberg.
Hinzugezählt werden müssen die 207 toten KZ-Häftlinge des Feldmochinger Friedhofs, die 1955 exhumiert wurden. Letztere starben in der Haft und an ihren Folgen im April/Mai 1945 im Lager. Ungewiss bleibt, ob alle auf dem Lagergelände verscharrten Toten der letzten Kriegstage auf dem KZ-Friedhof in Ludwigsfeld ihre letzte Ruhestätte gefunden haben.
Verbrechen der Schergen, Verzweiflung der Häftlinge
Zeugen berichten von Kannibalismus in den letzten Kriegswochen im OT-Lager, dass Hunderte Leichen in der
Krankenbaracke gelagert wurden und dass diese Leichen schließlich auf dem Gelände verscharrt werden
mussten, weil die Verbrennungskapazitäten der Öfen im KZ Dachau erschöpft waren. Lagerführer Jarolin selbst sagte aus, dass die in den letzten Kriegstagen in Karlsfeld ankommenden Züge mit Häftlingen anderer Außenlager mit vielen Toten in Massengräbern beerdigt werden mussten und täglich zusätzlich etwa 30 Häftlinge starben. Hier muss von einer großen Zahl von Toten ausgegangen werden. Häftlingsberichte sprechen von einer Belegung von 14.000 Häftlingen, von denen ein Drittel das Kriegsende nicht mehr überlebte, von "Leichenbergen" im Lager.
Nach Zeugenaussagen verließ Jarolin 4 Tage vor Kriegsende 1945 mit 10 seiner SS-Soldaten und ca. 200 russischen Häftlingen das KZ-Außenlager Dachau-Allach um letztere etwa 200 Meter vom Lager entfernt in die Luft zu sprengen.
Als letzte Grausamkeit ließ sich die SS die „Todesmärsche“ einfallen. Der Marsch der Allacher Häftlinge begann am 26. April 1945 gegen Abend und endete am 2. Mai 1945 in Waakirchen - Schopfloch.
SS-Lagerkommandant Jarolin spielte sich gegenüber den US-Militärbehörden bei seiner Gefangennahme noch dreist als „Lebensretter“ auf, indem er in seiner Aussage vom 11. Juli 1945 ausführte, dass er ja es gewesen sei, der SS-Sturmbannführer Fritz Degelow, als dem Verantwortlichem für den „Evakuierungsmarsch“ klar machte, „dass die Häftlinge auch im Gebirge dem Hungertod preisgegeben wären. Degelow hätte sich daraufhin entschlossen am, „1. Mai 1945 abends zunächst 8.000 Häftlingen der amerikanischen Armee zu überlassen, wobei die deutschen Militärbehörden behilflich waren.“ Für weitere etwa 2.000 Häftlinge endete der Marsch am 2. Mai 1945 in Rottach-Egern.
Insgesamt befanden sich etwa 14.000 Häftlinge auf dem „Todesmarsch“, davon etwa 2.000 aus Dachau-Allach.
Die Umgebung der „Krankenbaracke“ in Ludwigsfeld wurde bis heute nicht mehr weiter untersucht. Berichte von Ex-Häftlingen und ein Luftbild vom April 1945 lassen vermuten, dass es immer noch Massengräber auf dem Gelände in Ludwigsfeld gibt. Diese Vermutung kann freilich nur durch Grabungen vor Ort verifiziert werden. Die Unterlagen hierzu liegen vor.
Meine erstmals fast 70 Jahre nach Kriegsende vorgelegte Dokumentation zur Geschichte dieses KZ-Außenlagerkomplexes Dachau-Allach ist in vielen Aspekten noch ergänzungsbedürftig. Unabhängig davon ist es wichtig, die Fakten erneut in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken und so gegen das Vergessen vorzubeugen.
Diese Arbeit ist ein Versuch, einen Beitrag zur historischen Aufarbeitung des KZ-Außenlagerkomplexes zu leisten. Die Auswertung gerichtlicher Aussagen und persönlicher Berichte, die über ihren juristischen Wert hinaus soziale Bezüge und Abhängigkeiten erkennen lassen, sind dabei ein wichtiger Aspekt.
Die weit über 1.100 toten Häftlinge dieses Lagers verdienen ein würdiges Erinnern am Ort des Geschehens. Ihnen ist deshalb diese Ausstellung und die vorgelegte Dokumentation gewidmet.
München, November 2014
Klaus Mai
Die Ausstellung war bis 12. Dezember 2015 in der VHS München-Nord im Hasenbergl zu besichtigen. Die 300-Seitige Dokumentation kann nur persönlich über die VHS München-Nord und das CIC (Comité International de Dachau) in der Gedenkstätte Dachau erworben werden.